Atifa

Atifa

 

Im Karate aus Okinawa gibt es eine große Anzahl von Begriffen, die bestimmte Prinzipien erklären sollen. Da der Großteil dieser Bezeichnungen in der ursprünglichen Sprache Okinawas, dem Uchinaguchi (Mund von Okinawa), entspringt, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie ihren Weg nicht in das japanische Karate, und somit auch niemals ihren Weg nach Europa gefunden haben. Aber selbst Begrifflichkeiten führen nicht zum völligen Verständnis dieser Prinzipien, da sie in sich bereits ein intensives Studium darstellen, und sowohl ihr Verständnis als auch ihre Umsetzung den meisten Karate ka heute völlig fehlen. Neben den bereits bekannten Begriffen wie Gamaku und Chinkuchi bezeichnet Atifa (衝撃波) eines dieser Prinzipien.

 

Atifa ist sicher eines der Kampfprinzipien, welche ursprünglich aus den chinesischen Kampfkünsten nach Okinawa importiert wurde. Hier wird es oftmals als „Fa Jing“ bezeichnet. Aber auch in den chinesischen Stilen (Chuan Fa / Kung Fu) ist dieser Begriff nicht im Allgemeinen gebräuchlich, da es ein Konzept beschreibt, welches vor allem in den inneren Kampfkünsten (Tai Chi, Ba Gua und Hsing I) zu Hause ist.

 

 

Atifa, so man diesen Begriff heute überhaupt noch hört, beschreibt eine ruckartige, auf kurze Distanz angewandte Kraftentwicklung. Dabei werden oft Versuche unternommen, welche Atifa mit dem berühmten „One Inch Punch“, welcher durch Bruce Lee bekannt wurde, vergleichen. Dabei möchte ich anmerken, dass zwar die Grundidee identisch ist, aber, wenn man sich das heute noch vorhandene Video Material von Lees Vorführungen dieser Techniken genau anschaut, die Umsetzung eine andere ist. Vor allem, weil Bruce (von dem ich seit fast 40 Jahren ein riesen Fan bin!!) am Ende des One Inch Punch seinen Gegner mehr schiebt / schubst, als seine explosive Kraft in diesen zu übertragen.

 

 

Um dies zu erreichen, muss man in der Lage sein, aus der völligen Entspannung eine ruckartige, ja beinahe gewaltsame Entladung der Energie und Körperkraft zu entfalten. Die verwendeten Kanji für Atifa können deshalb auch als „Schockwelle“ übersetzt werden, was den Vorgang ziemlich genau beschreibt. Hokama Tetsuhiro, Hanshi beschreibt die Technik daher oftmals auch als „Tsunami Punch“, und nimmt dabei Bezug auf seine vernichtende, wellenartige Kraftentfaltung.

 

 

Fajing, wie es in den chinesischen Stilen genannt wird, wird von verschiedenen Lehrern mit einem Niesen verglichen. Ein Vergleich, den ich ebenfalls als sehr passend betrachte. Natürlich macht man sich über den eigentlichen Vorgang keine ernsthaften Gedanken, da er von alleine und auf eine völlig natürliche Art und Weise von Statten geht. So, wie es Atifa / Fajing ebenfalls tut! Aus einer relaxten und unverspannten Position heraus, entwickelt man plötzlich und unvermittelt eine enorme Kraft, die sich im Falle des Niesens natürlich auf den Bereich der Atemwege konzentriert, sich aber dennoch wie eine Schockwelle durch den ganzen Körper arbeitet.  Ein an sich unspektakulärer Vorgang, der jedoch enorme Kräfte freisetzt, und bei der die Luft mit einer Geschwindigkeit von über 160km/h ausgestoßen werden kann. Beachtlich, und einem Tsunami gar nicht unähnlich!

 

 

Es geht also darum, entspannt zu bleiben, die Kraft erst in letzten Moment zu entfalten, und sie dann aus dem ganzen Körper heraus in den Gegner zu übertragen. Wo der Nutzen einer solchen Bewegung liegt? Nun, man verschwendet keine Kraft in dem man Muskeln gegen die eigene Bewegung anspannt (was gerade in den ersten Jahren des Trainings öfter vorkommt, als man sich selbst eingestehen möchte), und kann so viel mehr Kraft in sein Ziel übertragen. Besonders wenn man alte Meister betrachtet, kann man erkennen, wie sie beinahe mühelos ihre Bewegungen ausführen, ohne dabei „aus der Puste“ zu kommen, und dennoch eine enorme Kraft in ihren Techniken entfalten.

 

 

Hinzu kommt, dass wir durch Atifa in der Lage sind, auf kurze Distanzen Kraft zu entwickeln. Eine lange „Anlauf Phase“ ist somit nicht unbedingt notwendig, was vor allem für den realistischen Kampf in der engen Distanz von großem Vorteil ist.

 

 

Um diese Art der Kraftentwicklung zu trainieren, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wie bei allen anderen Trainingseffekten gilt auch hier: Was man nicht übt, kann man nicht gut! Neben der Stärkung der „inneren Energie“ (Ki / Chi) durch Qi Gong oder relevante Kata wie z.B. Happoren, kann man die Entwicklung „kurzer“ Kraft durch eine Übung trainieren, die ich im Video zu diesem Artikel zeige. Diese Trainingsmöglichkeit ist durch Taira Sensei inspiriert, und zielt darauf ab, die anfängliche Beschleunigung der Techniken herauszunehmen, und erst auf den letzten Zentimetern Kraft zu entfalten. Dabei sieht man im Video recht gut, dass ich mich darauf konzentriere, den kompletten Körper in den Prozess der Kraftgewinnung einzubeziehen, und mich nicht nur auf die Gliedmaßen verlasse.

 

https://youtu.be/40JTRpbTGtU