Shu Ha Ri – Der Weg zur Meisterschaft

 

 

守破離

 

Das Erlernen einer Fähigkeit oder einer kompletten Kunst folgt relativ klaren Mustern. Zumindest dann, wenn man eine Fähigkeit oder gar eine ganze Kunst meistern möchte. In Japan gibt es hierzu eine klare Vorstellung, welche Stufen zu durchlaufen sind, wenn man sich auf den Weg der Meisterschaft begibt. Dabei finde ich diese Stufen nicht besonders japanisch, sondern zutreffend für alle Arten des Lernens. Aber sehen wir weiter…..

 

Der Begriff Shuhari geht angeblich auf den berühmten Tee Meister Kawakami Fuhaku (1719-1807) zurück, welcher dieses Thema als Jo-Ha-Kyu in seinem Werk „Tao of Tea“ beschreibt. Doch vermutlich kann bereits der berühmte Dramatiker und No Theater Meister Zeami Motokiyo (1363 –  1443) als der erster benannt werden, der diese Stufen der Meisterschaft in seinen Werken über No manifestierte.

 

Laut Jisho.org können die heute gebräuchlichen Schriftzeichen wie folgt gedeutet werden:

 

 

  guard, protect, defend, obey

 

schützen, verteidigen, gehorchen

 

 

 

rend, rip, tear, break, destroy, defeat

 

zerreißen, brechen, zerstören, bezwingen

 

 

 

  detach, separation, disjoin, digress

 

ablösen, trennen, abschweifen

 

 

Doch was genau verbirgt sich hinter der Idee des Shuhari?

 Shu ist die erste Phase des Lernens. In ihr lernt man die Grundlagen, ohne deren Beherrschung alle weiteren Schritte unmöglich gemacht werden. Aber in dieser Phase lernen wir nicht nur die technischen Grundlagen, sondern auch die Grundlagen des Lernens an sich. Wir lernen, wie uns das Kanji bereits vermitteln will, zu gehorchen. Wir lernen, auf das zu hören, was uns unsere Lehrer mitteilen wollen, und erkennen den Weg, die Art und Weise, wie diese Vermittlung stattfindet, an.

 

Die meisten von uns kennen ihn, den Youtube Krieger, der alle Bücher gelesen, alle Videos gesehen hat, und schon mit jedem (wenn auch nur für sehr kurze Zeit) trainiert hat. Während des Trainings redet er ständig, statt zuzuhören, statt zu üben. Dabei erklärt er laut, dass „Lehrer XY diese Technik aber anders macht“ und er „in Video blabla eine bessere Ausführung“ gesehen hat.

 

Ja, die Shu Stufe bringt uns weit mehr als körperliche Grundlagen bei. Sie schult unseren Geist, schmiedet ihn, damit er für weitere, schwierigere Schritte stabil und bereit ist.

  

Ha, als zweite Phase, ist ein heikles Thema. Viele, leider zu viele, glauben viel zu früh, diese Stufe erreicht zu haben. Sie denken, sie hätten sowieso schon alles gelernt, und ihren Lehrer bereits vor langer Zeit übertroffen. Nun, um ehrlich zu sein, hatte ich das auch. Früh! Sehr früh! ZU FRÜH! Aber das ist wohl der Segen der Jugend, auch wenn er in diesem Fall wohl eher ein Fluch ist.

 

Betrachten wir das Kanji, dann zerreißen, brechen, zerstören, bezwingen wir! Aber weder unseren Lehrer, noch das System oder den Stil selbst. Vielmehr uns selbst!! Denn immer wieder müssen wir in dieser Stufe nicht nur das Gelernte neu reflektieren, auf den Prüfstand stellen und manchmal sogar neu erfinden, sondern wir müssen uns selbst ebenfalls all diesen Prüfungen unterziehen. Diese Stufe, so sie denn überhaupt erreicht wird, ist wahrscheinlich die schwierigste. Das mag auch der Grund sein, warum sich die meisten Kampfkünstler in ihr verlaufen, den Mut verlieren, umkehren oder gar aufhören.

 

Ha ist geprägt von Zweifeln. Zweifel am erlernten System, Zweifel am eigenen Lehrer und Zweifel am eigenen Können und Verständnis. Dabei spielt einem das eigene Ego immer wieder einen Streich, um diese unangenehme Phase zu umschiffen. Schnell flüstert die Stimme im Kopf, dass man doch schon bereit ist für Ri, die letzte und wichtigste Stufe. Gerade so als ob es einen Abschluss einer Stufe gäbe, und man eine Urkunde für ihr bestehen erhalten würde. Niemand kann einem sagen, wann man sich in welcher Phase befindet, und manchmal ist man in allen dreien gleichzeitig.

 

In der Ha Phase müssen wir nicht nur uns selbst kennenlernen, sondern unser eigenes Bild von unserer Kampfkunst entwickeln. Eine klare Sicht auf das, was uns in Ri erwarten wird.

  

Ri, es ist geschafft! Ri, das lösen, trennen und abschweifen scheint etwas befreiendes zu haben. Nicht mehr gehorchen müssen, keine Rechenschaft mehr ablegen müssen gegenüber dem Lehrer. Faszinierend! Und doch geht die richtige Verantwortung jetzt erst los. Denn wenn wir die Techniken und Lehrinhalte unserer Kunst „transzendieren“ (und das ist es, wie man die Ri Stufe oftmals übersetzt), sind wir in der Regel schon lange Lehrer und haben Verantwortung für unsere eigenen Schüler übernommen. Schnell stellen wir fest, wie wichtig doch die Shu Stufe war, und versuchen zwanghaft, die alten Lehrmethoden wieder in Kraft zu setzen. Jetzt erst wissen viele den Drill und die Eintönigkeit dieser ersten Phase zu schätzen, und erkennen ihren wahren Wert.  Denn auch die, die Ri erreichen, kochen noch mit Wasser. Sie stellen fest, dass alles eins ist, alles auf den gleichen Ideen basiert, und nur der Weg, der auf den Berg der Meisterschaft geführt hat, ein anderer war.

 

Doch wahrscheinlich muss genau das passieren, um ein Meister zu werden. Erkennen, dass die Kunst des Kampfes genau wie der Weg des Lernens ein Kreislauf ist, und keine gerade Straße.

 

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