Was ist traditionell?

 

 

Über Karate und Koryu

 

           

 

            "Wir machen traditionelles so-und-so Karate!" Solche und ähnliche Aussagen höre ich immer wieder aus dem Mund verschiedener Karate Ka. Eine Aussage, bei ich früher gerne rot anlief und mich auf wilde Diskussionen einließ(meist natürlich ohne weiteren Nutzen) und die mir heute ein flüchtiges Lächeln ins Gesicht treibt, bevor ich versuche, das Gespräch auf Themen zu lenken, die weniger Zeitverschwendung sind. Aber auch andere Budoka sind der Meinung, ihr Stil ist traditionell. Und manchmal haben sie sogar recht mit dieser Aussage! Zumindest, wenn wir Tradition wie im Folgenden einsetzen:

 

 

  • etwas, was im Hinblick auf Verhaltensweisen, Ideen, Kultur o. Ä. in der Geschichte, von Generation zu Generation [innerhalb einer bestimmten Gruppe] entwickelt und                 weitergegeben wurde [und weiterhin Bestand hat] (DUDEN)

            

             oder            

 

 

 

 


 

Aber wollen wir mit der Verwendung des Wortes "traditionell" in Zusammenhang mit unserem Kampfkunststil nicht vielmehr etwas völlig anderes suggerieren? Wollen wir (bewusst oder unbewusst, falsch oder richtig) damit. nicht vielmehr zum Ausdruck bringen, dass unser Stil das Original, die unverfälschte und über viele Jahrhunderte vom Meister an den Schüler weitergegebene Essenz des echten Kampfes ist. Eine Kunst, die von den Kriegern vergangener Epochen auf dem Schlachtfeld entwickelt und bis zur tödlichsten aller Präzessionen verfeinert wurde. Diese EINE Tradition, in deren Geheimnisse uns unser Lehrmeister nun einweiht?

 

 

 

Die meisten der heute praktizierten Budo, der "Kriegs- und Wegkünste Japans", erfüllen diese mythischen Voraussetzungen jedoch nicht im geringsten. Künste wie Judo, Kendo, Aikido oder auch Karate Do (ob sich das eigentliche "Karate" überhaupt als Budo qualifiziert lasse ich für den Moment einmal unbeantwortet) werden selbst in Japan nur selten unter dem "Deckmantel" einer alten und traditionellen Kunst weitergegeben. Sie werden von Kennern der japanischen Kampfkünste als "Shin Budo" oder "Gendai Budo" bezeichnet, und dies aus gutem Grunde. Denn die Koryu, die alten Schulen und Strömungen der japanischen Kampfkünste, wurden nicht als Wegschulen (DO) begründet, sondern als effektiver Mittel zum Zweck: Der Ausbildung von Kriegern und ihrem unbedingten Erfolg auf einem Schlachtfeld! Interessanter Weise qualifizieren sich Koryu daher auch erst als solche, wenn sie VOR der Meiji Restauration, sprich vor 1868, gegründet wurden! Dies trifft in ihrer heute bestehenden Form leider auf keine der oben genannten Budo Formen zu! Um die Brücke noch kurz zurück zum Karate zu schlagen: Der erste vom Dai Nippon Butokukai (wenn du nicht weißt, was das ist, schlag es JETZT nach!!!!) anerkannte Karate Stil (und damit auch der erste offizielle Namen für einen Karate Stil) war das Goju Ryu von Miyagi Chojun im Jahre 1933. Also 55 Jahre NACH Beginn der Meiji Restauration!!!

 

 

 

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Natürlich sind selbst in Japan solche Definition nicht immer gerne gesehen, geschweige denn in Stein gemeißelt, denn selbst der "Nihon Kobudo Kyokai", eine Gesellschaft zur Verbreitung, Anerkennung und Erhaltung der Koryu, weicht hier teilweise vom (selbst) vorgegebenen Kurs ab. So finden heute unter anderem auch Kampfkünste aus Okinawa (deren Namensgebung und Formatierung erst deutlich später stattfand) eine Nennung innerhalb dieser Organisation.

 

 

 

Aber warum befasse ich mich dann überhaupt mit diesen Haarspaltereien in diesem Artikel? Weil Budo im Westen von einer gewissen Ignoranz geprägt wird. Und auch wenn ein englisches Sprichwort behauptet, das Unwissenheit ein Segen sei, so wünschte ich mir doch dass sich die westlichen Budoka deutlich mehr mit dem eigentlichen Sinn des Budo und der dahinter stehenden Geschichte beschäftigen würden. Gerade heute stehen uns mehr gute Quellen zur Verfügung denn je zuvor. Renommierte Autoren, deren Werke schon seit vielen Jahrzehnten wegweisend sind (stellvertretend und federführend möchte ich hier die Werke von Donn F. Draegger nennen) sollten für den traditionellen Budoka Pflichtlektüre sein! Wenn wir uns als "traditionelle Budoka" bezeichnen, von den eigentlichen Hintergründen aber überhaupt keine Ahnung haben, dann stellt sich die Frage, was wir denn dann wirklich sind? Ich will nicht mit dem erhobenen Finger durch die deutsche Budoszene laufen, das steht mir sicher nicht zu! ich möchte nur darauf hinweisen, dass dieses Verhalten dem Budo alles andere als gerecht wird. Und auch wenn ich jetzt schon weiß, dass ich mir damit keine großen Fan Gemeinde schaffen werde (von einem ständig schrumpfenden Freundeskreis ganz abgesehen) ist es vielleicht an der Zeit, mehr über Budo zu schreiben.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Michael Bergen (Montag, 25 Oktober 2021 11:37)

    Servus zusammen,
    Hallo Andree,
    du hast mich mit deinem Blog zum Nachdenken gebracht und nehme dies zum Anlass mal nach dem genannten Autor zu suchen. Ich gebe dir recht, dass "wir" gerne über die verschiedensten "Gewächse" philosophieren ohne deren Wurzeln zu betrachten und demzufolge sehr oberflächliche Betrachtungen kund tun. Danke für den Gedanken-Anstoß! Gruß vom Ammersee