(Ein kleiner Vorgeschmack auf mein neues Buch "Functional Karate", welches im Frühjahr 2023 erscheinen wird)
Davor – Während – Danach
Alle Kampfsysteme dieser Welt beschäftigen sich mit Techniken und Strategien, wie man einen Gegner möglichst effektiv besiegt. Dabei gehen unterschiedliche Stile mit unterschiedlichsten Methoden vor, die von ebenso unterschiedlichen Ergebnissen gekrönt sind.
Und trotz all dieser Unterschiede im technischen Ansatz bleibt ein wichtiges Prinzip, welches alle anderen Prinzipien in den Schatten stellt. Es ist quasi die „geheime Essenz des Kampfes“, eine magische Lösung für alle Probleme eine Kampfhandlung, egal unter welchen Regeln und egal mit welchen Mitteln.
Als aktiver Wettkämpfer war ich bekannt für meine schnellen und präzisen Beintechniken. Gerade bei den Zuschauern sind schnelle und saubere Kicks auch heute noch ein Hingucker, und Kämpfer mit solchen Fähigkeiten werden weltweit dafür gefeiert. Aber obwohl ich über diese Fähigkeit verfügte, verlor ich immer wieder gegen einen Kämpfer, der mir technisch nicht das Wasser reichen konnte. Es machte mich völlig kirre, weil ich einfach kein Rezept gegen diesen Fighter finden konnte. Dieser hatte einen beinahe unspektakulären Kampfstil, mit dem er jedoch über viele Jahre die absolute Nummer 1 in der internationalen Wettkampfszene war.
Seine „Zauberkraft“ war zwar optisch keine Augenweide, kämpferisch aber quasi der „Heilige Gral“. Er verfügte über ein unschlagbares timing!
Timing ist eine Mischung aus dem richtigen Distanzgefühl und einem Gefühl für den perfekten Moment. In den japanischen Kampfkünsten nennt man dies „Ma-Ai“, was oftmals als „Raum – Zeit Intervall“ übersetzt wird.
Die Fähigkeit Raum und Zeit zu beherrschen ist natürlich der Schlüssel zu jedem Sieg. Dabei gelingt es diesen Kämpfen nicht nur beinahe nach belieben zu treffen, sie machen es dem Gegner auch fast unmöglich ihrerseits Schläge an den Mann zu bringen. Treffen ohne getroffen zu werden ist damit die klassische „win win Situation“!
Um diese Art von timing anwenden zu können, sollte man zuerst genau die verschiedenen Arten der Zeit verstehen. In den japanischen Kampfkünsten werden sie als „Go no Sen“, Sen no Sen“ und Sen Sen no Sen“ kategorisiert. Dies habe ich bereits in meinem Artikel zum Thema „Karate ni sente nashi“ beschrieben.
https://www.ryukyu-bujutsu.de/2018/04/01/karate-ni-sente-nashi-teil-2/
Sehr vereinfacht kann man diese drei Zeiten als
Davor
Während
Danach
bezeichnen. Klingt einfach, nicht wahr? Und in der Theorie ist es das ganz sicher auch!
So kann man jedes Kampfszenario in diese drei Zeiten einteilen. Davor gibt es vielleicht ein Geplänkel oder Geschubse, während dessen kracht es, und danach, wenn es schon zu spät ist, reagiert der Verteidiger auf den Angriff.
Aber man kann es auch noch deutlicher analysieren, um es nutzbar zu machen.
Wie bereits geschrieben besteht jedes Szenario aus diesen drei Zeiten. Dies ist in de Theorie wichtig zu verstehen, da aus diesem grundlegenden Verständnis die automatische und logische Lösung erwächst.
Stellen wir uns folgendes Szenario vor:
Nach ein paar Bier in seiner Eckkneipe wird Klaus von einem betrunkenen Fremden angesprochen. Ein Wort gibt das andere, und nach einigen Beschimpfungen und einem ordentlichen Rempler verpasst der Fremde Klaus einen Faustschlag ins Gesicht! Jetzt könnte man deeskalierend denken, denn dann hätte Klaus bereits reagiert, als der Betrunkene ihn ansprach. Statt darauf zu warten, dass dieser ihn beschimpft und letztlich schlägt, hätte Klaus die Kneipe einfach verlassen können. Das wäre dann ein tolles „Davor – Danach“ gewesen!! Aber darum geht es in unserem Beispiel nicht.
Das Davor war der Fauststoß selbst, denn der fand statt bevor Klaus irgendetwas unternehmen konnte! Vermutlich hätte zum Beispiel ein Block oder ein Ausweichmanöver maximal während des Angriffs stattfinden können, in der Regel findet es aber (wenn überhaupt!) im DANACH statt. Spinnen wir das Szenario also weiter, ergibt sich folgender „Zeitplan“:
Handlung |
Zeit |
Angreifer greift an
|
DAVOR |
Verteidiger wehrt ab |
DANACH |
Angreifer schlägt erneut |
DAVOR |
Verteidiger weicht aus |
DANACH |
Bei dieser sehr vereinfachten Sichtweise auf eine Kampfhandlung zeigt sich auch sofort das eigentliche Problem, welches auch für den gut trainierten Verteidiger entsteht: Er handelt stehts im DANACH! Mit dieser Herangehensweise wird er immer im Nachteil sein, und kann die Kampfhandlung nicht zu seinen Gunsten beeinflussen.
Die Lösung des Problems, zumindest auf dem Reißbrett, ist so logisch wie simpel. Der Verteidiger muss eine Möglichkeit finden, wie er aus dem DANACH in das DAVOR kommt! Ja, ich weiß dass das ein Bisschen nach Zeitmaschine klingt, aber auch hier ist der Ansatz wieder relativ einfach. Zumindest in der Theorie. Und die Kata zeigen uns unzählige Beispiele wie das in der Realität funktionieren kann. Denn bei genauer Betrachtung erkennen wir jede Menge Techniken, bei denen Abwehr und Angriff zeitgleich passieren, und wir somit das DAVOR / DANACH Gefüge zu unseren Gunsten umdrehen. Beispiele gefällig? Hier ein paar einfache Techniken:
Gedan Barai
In der Ausgangsposition für den Gedan Barai können wir zum Beispiel einen Fauststoß zum Oberkörper / Kopf Abwehren (1), während wir mit der anderen Hand bereits zeitgleich einen Konter ausführen (2)
Shuto Uke
Beim Shuto Uke finden wir eine ähnliche Möglichkeit, bei der die hintere Hand den Angriff abwehrt, während die vordere Hand simultan einen Fingerspitzenstoß ausführt.
Wenn es uns im Training gelingt, diese Sicht auf unsere „Blocktechniken“ umzusetzen, dann können wir lernen, aus dem Danach in das Davor zu gelangen, und damit den Angreifer in die Rolle des Verteidigers zu drängen.
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Michael Bergen (Freitag, 16 September 2022 12:26)
Servus Andree, auch deinen neuen Blog finde ich gelungen. Ich freue mich auf dein Buch. Vielleicht finden wir ja Gelegenheit auf dem Seminar im Oktober beim Volker darüber zu ratschen. Mit mir hast du zumindest einen potenziellen Kunden, weil ich deinen Schreibstil angenehm finde. Liebe Grüße vom Ammersee und bis bald, der Michael.